Ohne Empathie keine Verkehrswende

Warum brauchen wir Empathie auf der Straße, oder was hat „Black Lives Matter“ und der aktuelle Diskurs über systemischen Rassismus mit Verkehrspolitik zu tun?

Bild: Mohamed Hassan auf pixabay

Ich bin „weiß“, aber Rassismus und, schlimmer noch, seine unbewusste und systemische Natur, in die wir alle hineinsozialisiert wurden, hat mich immer tief verletzt. Ausschließendes Denken und die Vorstellung, dass es nur EINE Lösung für Probleme gibt, eine Art, sich zu verhalten, eine Meinung, eine „richtige“ Sichtweise, hat mich auch immer gestört, bis hin zu dem Punkt, dass ich mich handlungsunfähig oder sogar krank fühle. Die Diskussion in Deutschland darüber, ob sich EinwandererInnen/MigrantInnen/Flüchtende ausreichend in die Gesellschaft „integrieren“, lässt völlig außer Acht, wie schwierig es ist, sich in diesem System zurechtzufinden, wenn man nicht hier geboren ist. Das bürokratische, legalistische Deutsch ist unglaublich schwer zu verstehen, und viele Menschen, die damit aufwachsen, verstehen diese Barriere nicht. Andere Perspektiven, andere Lebenserfahrungen oder Standpunkte werden nicht nur nicht verstanden, sondern aktiv ignoriert und als minderwertig abgetan. Der Mangel an Empathie, den wir tagtäglich im Straßenverkehr erleben, beginnt hier.

Empathie mit Unfallopfern

Wenn ich von einem Verkehrsunfall höre, empfinde ich sofort Mitgefühl für das Opfer und sein Schicksal. Was mit einem Menschen passiert, der im Straßenverkehr getötet oder auch „nur“ verletzt wird, darüber denke ich intensiv nach. Und darüber hinaus kann ich mir auch die Erfahrungen der Sachbearbeiterin einer Versicherung vorstellen, die sich im Laufe ihres Arbeitstages mit der Versicherung eines tödlichen Unfalls befassen muss. Und die Erfahrungen von Sanitätern, Feuerwehrleuten, Polizisten mit solchen Unfällen kann ich mir nicht einmal ansatzweise ausmalen. Von einem befreundeten Lkw-Fahrer weiß ich, dass Berufskraftfahrer in großen Trucks aus der Höhe ihrer Kabine „besser“ sehen können, und ich frage mich, wie sie mit solchen Erlebnissen umgehen können, ohne Albträume und Panikattacken zu bekommen. Das sind die Kollateralschäden, die unser System erfordert, der Preis für unseren Lebensstil und für endloses Wirtschaftswachstum.

Road Rage in Bremen

Hier in Bremen hören wir immer mehr Berichte über „road rage“-Vorfälle. Ein Radfahrer im Ostertorviertel machte einem Porsche keinen Platz zum Überholen, woraufhin der Fahrer ausstieg und mit einem Messer auf den Radfahrer einstach (https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-porschefahrer-attackiert-radfahrer-im-steintor-mit-teppichmesser-_arid,1930840.html). Oder eine Mutter schildert, wie sie hochschwanger mit ihrem Kleinkind im Fahrradsitz radelte, als eine andere (weibliche) Radfahrerin hinter ihr auftauchte und immer wieder klingelte, um sie zum Ausweichen zu bewegen. Als die Mutter nicht schnell genug war, beschimpfte die andere Radfahrerin sie und sagte, wenn sie nicht richtig Fahrrad fahren könne, solle sie keine Kinder haben (Bericht einer Mutter während der Aktion „Sichere Schulwege“). Wir betrachten diese Vorfälle nach wie vor als Einzelfälle und fragen uns vielleicht, was für Menschen so etwas tun würden. Es ist leicht, sie als „kranke“ Menschen abzutun, aber ein solches Verhalten kommt auch bei wohlmeinenden Aktivisten vor.

Opferschelte: Frau und Fahrrad

Kürzlich wurde ich durch E-Mail-Diskussionen nach einem schrecklichen Unfall aufmerksam. Die Diskussion drehte sich, wie leider so oft, um das Verhalten der Radfahrerin. Sie hatte neben ihrem Fahrrad auf dem Gehweg gestanden, sich das Obst in den Regalen eines Händlers angesehen und wurde von einem Auto angefahren. In der E-Mail-Diskussion wurde nicht einmal erwähnt, dass das Auto auf den Gehweg gefahren war und sie verletzt hatte oder dass die Infrastruktur an dieser Kreuzung schwerwiegende Mängel aufweist oder warum es keine Verkehrskontrollen für gefährliche Fahrer oder Sanktionen für schädliches Verhalten gibt. Stattdessen diskutierten die Mitglieder dieser E-Mail-Liste darüber, wie gefährlich oder „falsch“ das Verhalten der Radfahrerin gewesen sein muss, damit sie angefahren wurde, und warum sie mit ihrem Fahrrad auf dem Gehweg fuhr.

Zu viel Empathie mit widerrechtlich Parkenden

Ich möchte hier nicht mit dem Finger auf eine bestimmte Person zeigen, aber was ich im Laufe mehrerer Jahre erlebt habe und, was noch schlimmer ist, was ich höre, wenn ich über die Sicherheit meiner Kinder in unserer Nachbarschaft spreche, geht in die Richtung der Opferbeschuldigung. Es hat den Anschein, dass viele Erwachsene, insbesondere diejenigen, die in der Lage sind, Entscheidungen über die Verkehrsplanung und -durchsetzung zu treffen, jegliches Einfühlungsvermögen einfach ausgeschaltet haben. Warum reden wir über die „Erziehung“ unserer Kinder und über „richtiges“ und „falsches“ Verhalten, anstatt über die Infrastruktur, die Menschenleben gefährdet? Warum gibt es mehr Empathie für widerrechtlich geparkte Fahrzeuge als für Rollstuhlfahrer, die auch Rechte haben?

Wenn die Person, die den Audi SUV fährt (wir neigen dazu, nicht zu bemerken, dass hinter dem Lenkrad Menschen sitzen, sondern lassen uns von den immer größeren, immer aggressiver aussehenden Stadtpanzern ablenken), mich anhupt oder mir auf die Pelle rückt, stimmt etwas nicht. Was geht in einem solchen Menschen vor, der mich aktiv bedroht und versucht, mich aus dem Weg zu räumen, notfalls mit Gewalt? Eines ist klar – er oder sie sieht mich nicht als Mensch.

Fahrradrowdies

Leider gibt es auch einige Radfahrer, die sich so verhalten. Wenn mein siebenjähriger Sohn auf seinem neuen Fahrrad etwas wackelig unterwegs war, statt wie ein Tour-de-France-Rennfahrer „seine Linie zu halten“, und der in Elastan gekleidete Radfahrer nicht nur klingelt, um uns aus dem Weg zu räumen, sondern beim Überholen auch noch meine Erziehungskompetenz beleidigt, sind dieselben pyschologischen Mechanismen im Spiel. Und sobald ich in Deutschland in ein Auto steige, vor allem auf der Autobahn, wird mir das ganz deutlich vor Augen geführt. Wie können Menschen dieses „Schlachtfeld“ Tag für Tag aushalten, wenn sie wissen, dass schon die kleinste Bewegung tödlich sein kann? Was macht das mit unserer Gesundheit und unserer Psyche? Wie der Stadtplaner Charles Montgomery in seinem Buch „Happy City“ beschreibt, sind drei Minuten Adrenalin ein Spaß, wenn man in einer Achterbahn sitzt. 3 Stunden Adrenalin im Straßenverkehr machen uns krank.

Wo bleibt die Empathie der politisch Verantwortlichen?

Diese Erfahrungen werden oft verharmlost: „Mach doch nicht so einen Aufstand darum! Was für eine Lappalie!“, aber das ist nicht hilfreich, um das zugrunde liegende Problem zu verstehen oder zu lösen. Und wenn sich dann auch noch Politiker so verhalten, frage ich mich, ob sie überhaupt Empathie haben. Denkt Andi Scheuer (Ex-Verkehrsminister) nicht einmal an die mehr als 3.000 Menschen, die in Deutschland jedes Jahr bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen? (Statistisches Bundesamt , https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/07/PD20_265_46241.html) Würde es ihn stören, wenn eines der Opfer ein Mitglied seiner Familie wäre? Bringen die Top-Manager von VW, die die Abgaswerte ihrer Fahrzeuge vorsätzlich manipuliert und darüber gelogen haben, ihr Handeln mit dem Asthma oder den Allergien ihrer Enkel zu tun?

Ähnliche Mechanismen spielen in der Diskussion um die Black-Lives-Matter-Demonstrationen eine Rolle, die endlich eine weltweite Diskussion über systemischen Rassismus und Diskriminierung angestoßen haben. Wenn die Antwort des deutschen Durchschnittsbürgers auf diese Demonstrationen lautet, dass er gegen die AfD ist, dann hat er das eigentliche Problem nicht wirklich verstanden. Natürlich sind die meisten von uns, die in einer rassistischen Gesellschaft aufgewachsen sind, keine Skinheads, die meisten von uns verwenden keine explizit rassistische Sprache (tatsächlich tun das viele, wenn sie mir, einem „weißen“ und damit „akzeptablen“ Ausländer, anvertrauen, dass „Ausländer“ ein echtes Problem in Deutschland sind).

Uns allen fehlt es an Mitgefühl

Aber uns allen mangelt es an Empathie. Wir können oder wollen uns nicht wirklich auf das einlassen, was andere Menschen erleben, wirklich mitfühlen. Sichtweisen, Lebenserfahrungen, die anders sind als die eigenen, oder wie es der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen nennt, „der Blick von anderswo“, fehlen oft. Das ist schade, denn wenn wir diese Perspektiven ablehnen, verpassen wir auch die Chance, voneinander zu lernen und einige der Machtstrukturen aufzubrechen, die uns allen schaden. Stattdessen werden Monokulturen und Hierarchien aufrechterhalten.

Fuß und Rad: ein selbst verschuldeter Konflikt

Das Gleiche passiert bei Diskussionen zum Thema RadfahrerInnen „gegen“ FußgängerInnen. Es wird ein Antagonismus geschaffen, und der wahrgenommene Konflikt wird überhöht, während die wahren Gründe für solche Konflikte ignoriert werden. Die Vorstellung, dass alle Radfahrenden eine Art von Hooligans sind, die gerne FußgängerInnen umfahren und ständig Regeln brechen, ist sachlich falsch.

Der städtische Raum ist begrenzt, und wir haben als Gesellschaft beschlossen, den Löwenanteil dieses Raums dem motorisierten Individualverkehr zu schenken. Wenn Fußgängeraktivisten die Beseitigung von Radwegen fordern, damit Radfahrende im Mischverkehr fahren, dann nehmen sie damit in Kauf, dass auch Kinder und Jugendliche zwischen Autos fahren müssen, wie jetzt zum Beispiel auf dem gesamten Kirchweg in der Bremer Neustadt.

Und wir glauben nach wie vor, dass schlechte Erfahrungen, das Gefühl, durch unzureichende Infrastruktur bedroht zu werden, die Folge davon ist, dass wir „schwach“ sind. („Seid nicht so schwach, verdrängt es einfach!“). Aber ich kann die Nachricht von einem weiteren Verkehrstoten ebenso wenig verdrängen wie die Ängste um meine Kinder auf dem Schulweg, die (anhaltende) Mordserie des NSU, das Schwenken rechter Fahnen, das Lager in Moria oder die Ertrinkenden im Mittelmeer. Und zu meinen Sorgen und Ängsten gehört auch die Angst um unsere Zukunft, um unsere Kinder und Enkelkinder.

Was tun?

Was sollte getan werden? Das ist eine schwierige Frage. Gerade in Bremen scheinen die EntscheidungsträgerInnen entweder in einer Art Schockstarre zu verharren, oder sie sind so sehr in die lokale Korruption verstrickt, dass es keinen Ausweg gibt. Aber es gibt immer wieder Menschen, die laut werden und auf die wirklichen Fehler im System hinweisen und konkrete und konstruktive Lösungen anbieten. Ein Wandel in der Verkehrspolitik und -planung kann, wie auch in anderen Fragen der sozialen Gerechtigkeit, nur von unten, von der Zivilgesellschaft, kommen.

Nehmen wir zum Beispiel die viel gepriesene Rad- und Fußgängerinfrastruktur in den Niederlanden, gleich nebenan, so ist dies kein Zufall, sondern das Ergebnis von Bürgerinnen und Bürgern, die aus Empathie für die in den 1970er Jahren bei Verkehrsunfällen getöteten Kinder auf die Straße gingen. Viele dieser Demonstrationen fanden ohne Genehmigung statt, als Momente des gewaltlosen zivilen Ungehorsams, und sie veränderten die Verkehrsinfrastruktur im ganzen Land.

Wie in all den sozialen Bewegungen, von denen wir erfahren, die sich gegen Kinderarbeit, für das Wahlrecht der Frauen oder auch in neueren Demonstrationen gegen den systemischen Rassismus organisiert haben, setzen sich die Menschen für das ein, was sie für richtig halten, und das tun nicht nur die Betroffenen. Andere Menschen, die Empathie empfinden, die Gewalt und Ungerechtigkeit als inakzeptabel ansehen, sind ebenfalls Teil dieser breiten und vielfältigen Bewegungen, und das war schon immer so. Diese Diskussionen, diese Bewegungen brauchen vielfältige Akteure, brauchen Menschen, die in der Lage sind, das „Wir-gegen-sie“-Denken abzubauen und sich für die Rechte und die physische Sicherheit anderer einzusetzen. Ohne dieses Einfühlungsvermögen können wir unser Verkehrssystem nicht in ein System umwandeln, das der gesamten Gesellschaft dient und nicht nur einer Straße, einem Viertel oder einer Gruppe von Menschen.

Literatur

Agyeman, Julian, Introducing Just Sustainabilities: Policy, Planning, and Practice, Zed Publications, New York, 2013

 Bruntlett, Melissa and Bruntlett, Chris, Building the Cycling City: The Dutch Blueprint for Urban Vitality, Island Press, Washington, D.C., 2018

Emcke, Carolin, Gegen den Hass, Fischer, Frankfurt am Main, 2018

Fraser, Nancy, and Jaeggi, Rahel, Capitalism: A Conversation in Critical Theory, Polity Press, 2019

Harvey, David, Rebel Cities: From the Right to the City to the Urban Revolution, Verso, London, 2012

Lugo, Adonia, Bicycle/Race: Transportation, Culture and Resistance, Microcosm Press, Portland, 2018 

Montgomery, Charles, Happy Cities, Penguin, 2015

Sen, Amartya, A Theory of Justice, Penguin Books, 2010