Am 28. Juni 2018 verabschiedete das Berliner Abgeordnetenhaus das Gesetz zur Neuregelung gesetzlicher Vorschriften zur Mobilitätsgewährleistung, kurz MobiG. Dem ging eine über zweieinhalb Jahren andauernde Kampagne der Initiative Volksentscheid Fahrrad in Berlin und ihrem Trägerverein Changing Cities e.V voraus.
Rückblick
Es begann im Sommer 2015 …
Es gärte bereits im Sommer 2015 an verschiedenen Stellen in Berlin. Die Initiative Clevere Städte stellte erste Überlegungen zu einem Volksentscheid an, mit dem Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln gründete sich eine Initiative außerhalb der bis dato bekannten Verbände, und mit der Fahrradbande trat eine Gruppe auf, die die Vernetzung der “freien Szene” vorantreiben wollte.
Auch innerhalb des ADFC gab es Stimmen, die ein stärkeres und politischeres Engagement forderten. Kurz: Die Zeit war reif.
Zehn Ziele für ein Fahrradgesetz
Es folgten die Festlegung von zehn Zielen, eine beispiellose Kampagne, das Schreiben eines eigenen Gesetzes, die Sammlung von über 100.000 Unterschriften innerhalb von gut drei Wochen direkt vor dem Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus.
Daraus resultierend folgte die weitgehende Übernahme der Forderungen des Volksentscheid Fahrrad in den Koalitionsvertrag, gekoppelt mit der Perspektive, nicht nur ein Radgesetz zu verabschieden, sondern mit einem Mobilitätsgesetz die Abkehr von der autozentrierten Stadtplanung zu betreiben. Der Volksentscheid Fahrrad war mit einem Radgesetz gestartet und hatte erreicht, dass es ein Verkehrswendegesetz für Berlin geben wird.
Initiative verhandelt mit Senat und Parlament
Verhandlungen über die Inhalte des Mobilitätsgesetzes begannen im Frühjahr 2017. Wiederum beispiellos: Vertreter*innen des Senats, des Abgeordnetenhauses und der Zivilgesellschaft in Form des Volksentscheid Fahrrad, des ADFC und des BUND entwickelten miteinander den Gesetzentwurf. Das geschah weder im stillen Kämmerlein noch konfliktfrei.
Von der Flächenungerechtigkeit zur Vision des entspannten Fahrradfahrens
Überhaupt ist der Erfolg des Radentscheids ganz wesentlich darauf zurückzuführen, dass es gelungen ist, den politischen Gehalt der derzeitigen Flächenungerechtigkeit bei den Verkehrsflächen aufzunehmen
und diesen zu transformieren in eine Vision, die es allen ermöglicht, sicher und entspannt Fahrrad zu fahren – und die gleichzeitig gut ist für die Luft, das Klima und die ganze Stadt, weil Menschen mit guter Infrastruktur zum Radfahren verführt werden.
Das Mobilitätsgesetz
Das Mobilitätsgesetz gliedert sich in mehrere Abschnitte. Derzeit enthält es einen allgemeinen Teil, einen Abschnitt zum ÖPNV und einen zum Radverkehr. Der allgemeine Teil stellt übergeordnete Ziele und Vorgaben dar. Hier wird der Vorrang für den Umweltverbund bei der Planung festgeschrieben, und es liegen Regelungen dafür vor, welche Abwägungskriterien bei konfligierenden Interessen zu gelten haben, so z.B. der Vorrang des fließenden gegenüber dem ruhenden Verkehr.
Vision Zero und Mahnwachen für getötete Radler*innen
Als oberste Leitlinie der Planung wird die Vision Zero festgeschrieben: die Planung muss also grundsätzlich darauf ausgerichtet sein, schwere Personenschäden zu vermeiden. Auch wenn das Thema Verkehrssicherheit nicht von Beginn an im Radgesetz des Volksentscheid expliziert war, so stellte es einen Schwerpunkt der Arbeit der Initiative dar.
Mit Mahnwachen für getötete Radfahrer*innen wurde das Thema auf die politische Tagesordnung gehoben:
Tote und Schwerverletzte sind keine Zahlen in der Statistik, sondern Menschen mit Angehörigen und Freund*innen, für die ein Unfall das ganze Leben jäh verändert.
Breite Radwege an allen Hauptstraßen
Im Radverkehrsteil finden sich die meisten der zehn Ziele des Volksentscheid wieder. Es wird bis 2030 ein dichtes Netz aus Radverkehrsanlagen in der gesamten Stadt geben, zusammengesetzt aus Radschnellverbindungen mit ausreichend breiten Radwegen an allen Hauptstraßen, die gegen das Befahren und Parken durch Kraftfahrzeuge geschützt sind, und einem für den Radverkehr qualifizierten Netz aus Nebenstraßen.
Bis 2025 werden 100.000 neue Radabstellmöglichkeiten geschaffen, Baustellen radverkehrssicher gestaltet und ein umfangreiches Monitoring über den Fortschritt eingeführt.
Bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes wurden in Berlin 50 bis 60 neue Stellen für Radverkehrsplaner*innen geschaffen und im Haushalt gut 50 Millionen Euro jährlich für den Radverkehr bereitgestellt.
Nächste Ziele: Fußverkehr und “intelligente Mobilität”
Das Gesetz selbst wird weiter wachsen. Derzeit wird in einem weiteren, breiten Beteiligungsprozess ein Abschnitt zum Fußverkehr für das Gesetz verhandelt.
Ferner soll es binnen Jahresfrist noch um einen Abschnitt zur intelligenten Mobilität – was auch immer das ist – erweitert werden.
Wir haben gewonnen? – Ein Ausblick
Politik vor allem für die, die sich noch nicht aufs Rad trauen
Das Mobilitätsgesetz ist ein Erfolg der Zivilgesellschaft. Genese und Inhalt haben gezeigt, dass Verkehrspolitik zu lange als TINA-Politik (there is no alternative) aufs Auto ausgerichtet betrieben wurde. Jahrzehntelang haben Städte immer wieder davon geredet, dass sie den Radverkehr fördern wollen, aber niemand hat sich an die Neuaufteilung von Flächen gewagt.
Heraus kamen Schutzstreifchen in der Dooringzone, die niemanden, schon gar nicht Eltern mit Kindern oder Umsteiger*innen, zum Radfahren animieren.
Der Volksentscheid Fahrrad ist angetreten mit dem Anspruch, nicht allein Politik für die existierenden Radfahrer*innen zu machen, sondern auch für die, die es gerne werden wollen, aber sich nicht trauen.
Aber: Es dauert alles viel zu lange
Die Arbeit ist mit der Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes noch lange nicht erledigt. Es bleiben elfeinhalb Jahre, bis das Radverkehrsnetz dem Gesetz entsprechend fertig gestellt sein soll. Gleichzeitig dauert es in Berlin derzeit im Durchschnitt noch immer vier Jahre, um einen Radweg zu bauen – mit einer reinen Bauphase am Ende von wenigen Wochen.
Die Prozesse in der Berliner Verwaltung sind noch an vielen Stellen unklar. Es gibt Mehrfachzuständigkeiten, was dazu führt, dass sich entweder alle oder keine Stelle für zuständig erklärt, beides eignet sich nicht zur Verfahrensbeschleunigung. In einzelnen Bezirken gibt es Widerstände gegen das Gesetz und Teile der Verwaltung und der Stadtgesellschaft kämpfen weiterhin um jeden Parkplatz.
Wir kämpfen weiter
Um die Umsetzung zu begleiten, fantasievoll Druck zu machen und auch der Politik in Berlin mit Rat und Expertise zur Seite zu stehen, wird die Initiative Volksentscheid Fahrrad weiter bestehen. Ergänzt wird sie durch Netzwerke für Fahrradfreundlichkeit, die sich inzwischen in vielen Bezirken gegründet haben. Sie bündeln Berlins wertvollste und smarteste Ressource: Menschen, die sich in ihrer Freizeit für die Verbesserung der Lebensbedingungen in der Stadt einsetzen.
Damit allerdings nicht genug: Bereits im Frühjahr 2016 folgte dem Radentscheid Berlin die erste vergleichbare Initiative in einer anderen Stadt: Bamberg. Inzwischen wächst die Zahl der Radentscheide zu einer immer stärkeren Bewegung heran: kommunale Radentscheide (z.B. in Darmstadt, Frankfurt, Kassel, Stuttgart, Hamburg und viele andere mehr, die mir verzeihen mögen, dass ich sie hier nicht aufgeführt habe) und Volksinitiativen auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen. Sie alle werden getragen vom Bewusstsein, dass Verkehrspolitik von unten gestaltbar ist, ja dass dies der einzige Weg ist, sie gestaltbar zu machen. Der Radverkehr wird derzeit vor allem von der Zivilgesellschaft auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Baukastensystem für Radentscheide in jeder Stadt
Und je mehr dieser Initiativen sich finden, desto leichter wird es für die folgenden. Schon jetzt existiert eine Art Baukastensystem mit verschiedenen möglichen Forderungen, die auf Stadtgrößen skalierbar sind. Es existiert ein Portfolio an Argumentationsfiguren und Aktionsformen, die überwiegend in Berlin entwickelt, aber von den anderen Radentscheiden ganz im Sinne einer quell-offenen Software, aufgenommen, weiterentwickelt und verbessert werden.
Fahrrad ist der Schlüssel für den Wandel
In immer mehr Städten finden Menschen den Mut, sich auf politischem Weg für die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und mehr Gerechtigkeit beim Zugang zum öffentlichen Raum einzusetzen. Das Fahrrad ist einer der Schlüssel hierzu. Nicht nur, weil es für städtische Distanzen und durchschnittliche Einkäufe optimal ist, sondern weil es als Artefakt auch ein Moment der Identifikation und Selbstverständigung in sich trägt – weit über technikaffine Subkulturen hinaus.
Changing Cities als Bewegung
Mit jeder Stadt, in der sich eine Radentscheid-Initiative zusammenfindet, wächst auch die Bewegung für den Wandel der Städte. Changing Cities steht für diesen Wandel und für ein Kampagnennetzwerk, das die Verkehrswende von unten voranbringen wird.
Anmerkung von Bremenize: Inzwischen gibt es eine bundesweite Vernetzungsplattform von Changing Cities, und wir sind auch dabei.
2 Gedanken zu „Berliner Volksentscheid Fahrrad: Von der Graswurzelbewegung zum Mobilitätsgesetz“
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